Der Frau-Holle-Teich, ein kleines Stillgewässer auf dem Hohen Meißner, soll der Sage nach der Eingang zu Frau Holles Anderswelt sein. Frau Holle selber ist die bedeutendste mythologische Gestalt in der Welt der Sagen und Märchen. Sie wacht besonders über die häusliche Ordnung und Liebestreue. In Sagen und Märchen benutzen die Menschen ihren Teich als Eingang in die „Anderswelt“. Eine Welt der Träume und Geister, fernab jeder irdischen Realität, in die man eintaucht, wenn man in der „wirklichen Welt“ vor scheinbar unlösbaren Aufgaben steht.

Am letzten Abend des Meißnertreffens 2013 änderte sich überraschenderweise die Laufrichtung zwischen Dies- und Jenseitigem. Bei schmuddeligen Herbstwetter mussten sich die versammelten Jugendbewegten nicht erst die Mühe machen, in das eiskalte Wasser des Teichs zu steigen, um ein wenig mit den Geistern zu plaudern, nein die Geister gesellten sich zu den „Bewegten“.

Im hereinbrechenden Dämmerlicht, angekündigt durch einen durchdringenden Gongschlag, trat der etwas müde und altersschwache Geist der Jugendbewegung durch die wallenden herbstlichen Nebelschwaden.  Er, ein Geist von nahezu drei Meter Höhe, stand im Kreis der feiernden „Jugendlichen“ und richtete eindringliche Worte an sie.

„Mein Geist ist müd, die Hoffnung leer, ihr seid mir so zu wider. Kein Strolch, kein Revolutionär

alle schrecklich bieder. Mit Donnerstimme möchte ich Euch wecken:
Blickt auf! befreiet Euch von Euern Flecke. Mädels, Burschen, lasst was flattern, lasst  was wehen

und tut mir bitte doch nicht so gesetzt.  Ein bisschen stürmisch muss es gehen, soll was Freudiges entstehen.  Tut auch mal was, was die Leut  entsetzt! Tut nicht so vereist! Glut ist Geist!“

Die Gescholtenen reagierten auf seine Worte mit brausendem Johlen, jenseitigem Heulen und spiritistisch - spitzem Schreien. Mit jedem weiteren Gongschlag  betraten insgesamt 12 weitere Abgesandten aus  der Anderswelt, alle von beeindruckender Gestalt und Größe, die Festwiese und sprachen zu den Anwesenden

Der Freigeist

„Ich denke anders, denke quer, es ist die Wahrheit mein Begehr ich protestiere, hinterfrage,

lege Wissen auf die Waage. Von Schaf und Wolfsgeheul befreit, bin gegen Kleingeist ich gefeit.

- Nichts kann uns den Geist ersetzen, der ein freies Leben leiht! –„

Der Ungeist

„Ich bin der Geist, der stets verneint und das mit Recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht. Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was Ihr Sünde, Erstörung, kurz: Das Böse nennt, mein eigentliches Element!“    

Der Kleingeist

„Von Horizont und Tellerrand halt‘ ich mich stetig fern. Ich meide die Erleuchtung und auch des Pudels Kern. Nur eines find‘ ich wirklich schick: Das ist ein wahrer Tunnelblick!

Der Zeitgeist

„Fall‘ nicht auf mich herein, mein Kind, bin unstet wie ein Blatt im Wind. Denn was neu ist, wird alt

und was gestern noch galt, gilt schon heut‘ oder morgen nicht mehr.“

Der Heilige Geist

„Einst war ich ein Brausen am Himmel, wie ein gewaltiger Wind und erfüllte das ganze Haus (NT)

Ich bin EIN Weg -  EINE Wahrheit und göttliche Liebe. Spiritus Sanctus!

Der braune Geist

„Braun, braun, braun sind alle meine Taten, braun, braun, braun ist alles was ich kann. Darum lieb ich alles was schön braun ist, weil mein Volk ein nationales ist. Ich geb‘ mich gerne barsch und bin ein rechter Arsch.“

Der Weingeist

„In vino veritas! Statt Lorbeerbäume möchte ich nur Rebstöcke pflanzen mit euch um volle Fässer hier ein Freudentänzchen tanzen.

Melisstengeist

„Innere Unruhe, Wetterfühligkeit, Schlafstörungen oder nervöse Magenbeschwerden?

Ich lindere, harmonisiere, stabilisiere und stärke. Ich nehme Kopfdruck und Gliederschmerzen

und schenke einen ruhigen, erholsamen Schlaf!- Nie war ich so wertvoll wie heute!“

Der Schöngeist

„Mein Auge hängt an schönem Angesicht, an Musik und Harmonie mein Ohr. Verzeiht dem Geist, der, von künstlichem Licht berauscht, das Irdische verlor!“

Der gute Geist

„Ich kümmere mich, ich sorge mich, ich reiche dir die Hand. Bin immer da, wenn du mich brauchst

und bleib oft unerkannt.“

Der Flaschengeist

„Lass mich frei, lass mich frei! Dann erfüll ich dir der Wünsche drei! Hundert Jahre reichen mir

und wenn du schlau bist wünschst du dir: Eigene Bestimmung! Eigene Verantwortung! Innere Wahrhaftigkeit!“

Der Geist von 88

„Fünfundzwanzig lange Jahre lag ich zu Hause im Regale. Habe damals viel vollbracht, will sehen, ob ihr es besser macht?!“

Angezogen vom Auftauchen der Geister füllte sich der Platz vor der Jurte des Westforums mit immer mehr begeisterten Menschen. Viele trugen Fackeln, bunte Fahnen, Trommeln und allerhand anderes Schlagwerk mit sich. In diese geisterhafte Atmosphäre ertönte ein weiterer, ein letzter Gongschlag. Ein japanischer Kaligraph trat in den Kreis, flankiert von zwei großen, roten Bannern. Er erklärte:

Was Kultur ist, will, soll und kann, lässt sich im Japanischen anhand des kalligraphischen Schriftzeichens „bun-ka“ erläutern. Der Wortteil „ka“ bedeutet ‚ändern‘, ,beeinflussen‘ und wird mit zwei Zeichen geschrieben. Die Zeichen stellen zwei Menschen dar, von denen der eine auf dem Kopf, der andere auf den Füßen steht. Für den Wortteil „bun“ gibt es keine eindeutige Entsprechung im Deutschen, aber wenn man nach dem Wort mit der gegenteiligen Bedeutung fragt, so stößt man auf Begriffe wie ‚Waffe, Kampf-Gewalt‘. Davon ist  „bun“ das genaue Gegenteil. Kultur bedeutet demnach, Menschen durch Nichtanwendung von Gewalt ändern!

Und so verneigen wir uns vor Bun-ka, dem größten aller Geister. Seine Größe offenbart sich in der Tatsache, dass er nicht hier und doch überall unter uns präsent ist. Bun-ka, führt den großen Zug der Geister an!“

Mit sicherem Pinselstrich malte der Kaligraph die Zeichen Bun-ka auf den roten Stoff und die Geister, die Fahnen, die Trommler, die Bleichgesichtigen und alle, die sich von der Atmosphäre spontan begeistern ließen, liefen in die Dunkelheit, den Nebel und den immer stärker werdenden Regen. Der Zeremonienmeister Konushkan, eine Mischung aus Rumpelstilzchen und Gandalf, choreografierte den Geisterzug mit magischem Fingerspitzengefühl. Sobald  sein Lichtstab in die Höhe schoss setzte ein ohrenbetäubender Lärm ein, der trotz des starken Regens immer wieder Schaulustige aus den schwarzen Zelten lockte. Verschwand der Lichtstab herrschte eine gespannte Stille im Zug.

Nach der ersten kurzen Wegstreckte formierte der Zeremonienmeister den Zug zum Kreis. In die Mitte der Versammlung trat ein jugendbewegter Flötenheini. Durch ein Megaphon wurde das Gedicht die Wandervogelflöte deklamiert.

Auf der Flöte groß und bieder
Spielt der Wandervogel wieder,
da am Fluss die Grille zirpt
Und der Mond die Nacht umwirbt,

Tandaradei

Ach, die Seele ist so trocken
Und der Kopf ist ganz verwirrt,
Oben, wo die Wolken hocken,
Grausiges Gevögel schwirrt,
Tandaradei

Ja, ich spiele ein Adagio
Für die Braut, die nun schon tot ist,
Nenn es Wehmut, nenn es Quatsch,- O
Mensch, du irrst so lang du Brot isst,
Tandaradei

In die Geisterwelt entschwebt sie,
Nähernd sich der Morgenröte,
An den großen Gletschern klebt sie
Wie ein Reim vom alten Goethe.
Tandaradei

Glutistisch sei dies Liedlein,
Das ich Euch zum Besten gebe,
Auf zwei Flügeln wie ein Flieglein
Steig es langsam in die Schwebe.
Tandaradei

Zwischen den Strophen zelebrierte ein Chor das Tandaradei, mal lieblich, mal ärgerlich, mal italienisch, mal wichtigtuerisch und ein letztes Mal ganz voller Leichtigkeit. Danach setzte der Zug seinen Weg über den breiten Hauptlagerweg fort, flog kurz vor dem Lagertor eine elegante Wende, um danach wieder den Hügel zum Westforumspalast emporzuschweben.

Alle, die sich bis dahin gefragt hatten, warum die Besucher aus der Anderswelt sich gerade hier versammelten erhielt eine atmosphärisch unzweifelhafte Antwort:  Man hatte es Ihnen geisterhaft gemütlich gemacht. Fackelträger, Pyrotechnik, Feuerspucker, dumpfer Trommelschlag, Geisterheulen, bleich geschminkte Gesichter: In solch einer Umgebung fühlten sich die sagen- und märchenhaften Besucher sichtlich wohl.

Im Schein von Fackeln und Feuerspuckern trugen vier ausgesprochen gut gebaute Männer, mit freiem Oberkörper eine riesige Reckstange in den Kreis, die von Ihnen mit kräftiger Hand gehalten wurden. Ein fünfter, mit regennassen und ebenso beeindruckend gebauten Oberkörper, trat unter die Reckstangen und begann seine Übungen. Dazu wurden das Gedicht der Klimmzug deklamiert.

Das ist ein Symbol für das Leben.

Immer aufwärts, himmelan streben!

Feste zieh! Nicht nachgeben!

Stelle dir vor: Dort oben winken

Schnäpse und Schinken.

Trachte sie zu erreichen, die Schnäpse.

Spanne die Muskeln, die Bizepse.

Achte ver die Beschwerden.

Nicht einschlafen. Nicht müde werden!

Du musst in Gedanken wähnen:

Du hörtest unter dir einen Schlund gähnen.

In dem Schlund sind Igel und Wölfe versammelt.

Die freuen sich auf den Menschen, der oben bammelt.

Zu! Zu! Tu nicht überlegen.

Immer weiter, herrlichen Zielen entgegen.

Sollte dich ein Floh am Po kneifen,

Nicht mit beiden Händen zugleich danach greifen.

Nicht so ruckweis‘ hin und her schlenkern;

Das passt nicht für ein Volk von Turnern und Denkern.

Klimme wacker,

Alter Knacker!

Klimme, klimb

Zum Olymp!

Höher hinauf!

Glückauf!

Kragen total durchweicht.

Ah — äh — äh — endlich erreicht.

Das Unbeschreibliche zieht uns hinan,

Der ewigweibliche Turnvater Jahn.

Vollkommen gebannt von Licht und Muskelspiel, jagte das spiritistische Spektakel seinem Höhepunkt zu. Ein weiteres Mal trat der Chor vor die Geister und das Publikum und peitschte seinen Sprechgesang mit immer größerer Intensität in die Meißnernacht.

Bergamotten flotten im Petroleumhimmel
Schwademasten asten Schwanenkerzen
Teleplastisch starrt das Cherimbien Gewimmel
In die überöffneten Portierenherzen
Inhastiert die Himmelbimmel

Feldpostbrief recochettiert aus Krisenhimmel
Blinder Schläger sternbepitzt sein Queerverlangen
Juste Berling rückt noch jrad die Mutterzangen
Fummelmond und ferngefimmel
Barchenthose flaggt die Kaktusstangen

Lämmergeiger zieht die Wäscheleine
Wäschelenden losen hupf und falten
Zigarrinden sudeln auf den Alten
Wettermännchen bummt wild die Tarummen
Bis alles Zimbeln angehalten.

Nach den Zeilen „… bummt wild die Tarummen“ setzte ein letztes Mal ein ohrenbetäubender Lärm ein. Zum Schluss ließ der Zeremonienmeister den Stab sinken, der Chor sprach in leisen aber eindringlichen Worten „… bis alle Zimbeln angehalten“. In die Stille erklang der hohe Klang einer einzelnen Zimbel. Das Diesseits und Jenseits entschwanden gemeinsam und schweigend im Festzelt.

Zurück blieben die Unbeteiligten, Erstaunten und Verwirrten. Überall hörte man die Frage was sollte das? Was war der Sinn?

Wer weiß? Vielleicht war es sinnlos? Vielleicht Kultur, ein Versuch Menschen durch Nichtanwendung von Gewalt zu verändern? Vielleicht war es Ausdruck rheinischer Lebensfreude, die man im Westen ja oft mit bunten, spektakulären Aufzügen zum Ausdruck bringt? Vielleicht ein lebendiger Gegenentwurf zur eher biederen Fackel- und Feuerveranstaltung vom Vorabend? Man weiß es nicht.

 

„Tut auch mal was, was die Leut  entsetzt! Tut nicht so vereist! Glut ist Geist!“