„Bist du immer du? – Egal, wo du bist? Egal, wer mit dir ist?“
Ein Erlebnisbericht
Zu gewissen Zeiten konnte man auf dem Hauptweg des Meißnerlagers knapp hinter dem Lagertor ein Schild mit der Aufschrift „ab hier 2h Wartezeit“ finden. Meine inneren Fragezeichen wurden bald kleiner, als beim weiteren Voranschreiten das Ende einer langen Warteschlange in Sicht kam: Bündisches Volk, das sich mit Klampfen, Basteln, Stricken oder auch Essenfassen die Wartezeit verkürzte. Das Ganze wurde alle zwei Minuten untermalt von dem durchdringenden Gebimmel einer Schiffsglocke. Neugierig schritt ich an dieser Reihe vorbei bis zum Anfang. Bei jedem Bim-Bim verschwanden zwei Personen in einer Hochkohte (und kamen nicht wieder heraus!). Das neben dem geschlossenen Eingang angebrachte Schild „Wanderer zwischen den Welten“ klärte mich auch nicht weiter darüber auf, was denn in dem Zelt wohl passierte. Man hörte nur Fetzen von Pop-Musik, eine strenge Stimme und ab und zu eine Trillerpfeife.
Am Empfangstresen neben dem Eingang wurde mir erläutert, dass bei den 16 Bünden des Nordforums im Zuge der Meißnervorbereitung der Wunsch nach einem gemeinsamen überbündischen Projekt aufkam. Das Ergebnis könnte ich jetzt hier erleben. Etwas schlauer, aber ohne Bescheid zu wissen, stellte ich mich nun auch an. Durch nette Plaudereien mit den Mitwartenden und gemeinsame Mutmaßungen in der Schlange verging die Wartezeit recht zügig. Plötzlich war ich als nächstes dran. Bim-Bim, und ab in die Hochkohte.
Bevor ich mich noch an das gedämpfte Licht gewöhnt hatte, bekam ich einen Anpfiff warum ich denn schon wieder zu spät käme. Sofort setzen! Vorne stand ein Lehrer und nachdem ich mich zu den pünktlichen Mitschülerinnen auf eine Schulbank gezwängt hatte, sollte ich aus dem Stegreif einen an der Tafel angeschriebenen Satz grammatikalisch analysieren. Was war noch mal die adverbiale Bestimmung der Zeit???? Netterweise sagten mir meine Schulkameraden vor und ich konnte die Aufgabe bewältigen. Kurz darauf läutete es und ich wurde vom Lehrer zur der anderen Seite der Hochkohte hinaus in die Pause gescheucht.
Nun wusste ich zumindest, warum vorne keine/r mehr herauskam, aber wie würde es weitergehen? Ein mit Jurtenbahnen abgespannter Gang führte zu einer weiteren Hochkohte. Mitten in diesem Gang eine Trittleiter. Dann mal los: Sprossen hoch, elegante Drehung, Sprossen runter und ab ins nächste Zelt. Dort ging es mit körperlicher Ertüchtigung weiter. Auf dem Boden lagen Turnmatten und sowohl mein Trainer als auch meine Sportkollegen waren schon kräftig dabei, sich warm zu machen: auf der Stelle laufen, den Hampelmann hüpfen usw. Dann Krafttraining: Liegestütze und Sit-ups, immer ordentlich angefeuert von der Trillerpfeife unseres ehrgeizigen Übungsleiters. Mittlerweile war mir schon recht warm und ich war dankbar, dass ich nach dieser Aufwärmphase für einen Konditionslauf wiederum nach der anderen Seite nach draußen geschickt wurde.
Und wieder konnte ich nur dem Gang aus Jurtenplanen folgen. Der Eintritt in die nächste Kohte, aus der Party-Musik heraus schallte, wurde mir allerdings durch eine dunkle Gestalt mit Sonnenbrille verwehrt. Erst nachdem ich meinen Pass vorgezeigt hatte, öffnete sich für mich die Tür zur nächsten Welt. Kaum war ich eingetreten, kamen johlend zwei aufgebrezelte Disco-Mädels auf mich zu, drückten mir einen Kurzen in die Hand und forderten mich zum Tanzen auf. Beim Nachschub holen an der Bar nervte ein Betrunkener und machte uns blöde an. Als der Barkeeper sich weigerte, ihm noch mehr Schnaps zu verkaufen, wurde der Suffsack so ausfallend, dass der Türsteher eingriff, den Club für heute schloss und mich hinauskomplementierte. (Bevor pädagogische Bedenken aufkommen: Der Schnaps bestand zu 100% aus Wasser.)
Draußen erwarteten mich zwei Freunde meiner neuen Fahrtengruppe und reichten mir meinen Rucksack. Als ich das Gepäck geschultert hatte, ging es innerhalb einer Jurtenbahenschlucht über wippende Stämme zu einer Hochkohtenhöhle. Im Eingangsbereich lag ein kleiner See, den wir nur gemeinsam und mithilfe von Trittsteinen, die wir uns gegenseitig anreichten, überqueren konnten. Mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken gar nicht mal so leicht. Weiter hinten in der Höhle fanden wir einen guten Rastplatz. Leider war heute unser letzter Fahrtentag und unsere Gruppenleiterin schickte mich durch das andere Höhlenende raus, um mich wieder „zivilisationsfein“ zu machen.
Im mittlerweile bekannten Jurtenbahnensythem fand ich dann tatsächlich eine Schüssel mit Wasser, Seife, Deo und sogar eine Bürste vor. Welche dieser Gegenstände ich benötigte und benutzte, sei hier aus Diskretionsgründen verschwiegen. So „fein gemacht“ folgte ich dem Gang weiter bis zur nächsten Welt. Darin erwartete mich freudestrahlend meine Familie, die gerade um den Abendbrottisch saß. Na ja, zumindest meine Mutter freute sich sehr, mich nach drei Wochen Fahrt wiederzusehen und stellte gleich noch einen Teller dazu. Aber auf ihr munteres „Nun erzähl doch mal! Was hast Du denn so erlebt? War dir immer warm? Hattet ihr genug zu essen? War es denn schön?“ usw. konnte ich gar nicht so schnell antworten. Einfach nur „ja, nein, ja, ja“ war wohl nicht das, was sie von mir erwartet hatte. Bevor ich mit meinen Überlegungen einer Zusammenfassung näher kam, mäkelte meine Schwester über den etwas strengen Geruch, der von mir ausginge. OK, sie sagte, ich stänke bestialisch. Ich setzte schon an, um ein „sooo arg ist es nun auch nicht“ zu erwidern, als mein Vater mir zuvor kam und ihr darlegte, dass ihr Gestank nach Zigarettenrauch viel schlimmer sei, viel öfter vorkomme und außerdem viel ungesünder sei. Pampige Gegenrede meiner Schwester, gereizte Antwort meines Vaters… Oh Mann, ein toller erster Abend. Bevor dieses bekannte Streitthema mal wieder völlig eskalierte, hob meine Mutter schnell die Tafel auf, schob mich unauffällig in Richtung Tür und meinte, dass es doch ganz nett wäre, wenn ich jetzt erstmal schön unter die heiße Dusche ginge.
Aus dieser Hochkohte rausgeschoben, stand ich nicht wie erwartet in einem Jurtenbahnengang (jetzt hatte ich mich gerade daran gewöhnt), sondern vor der recht kleinen Öffnung eines quietschorangenen Tunnels. Also mit knackenden Gelenken in den Vierfüßlerstand und losgekrochen. Auch wenn es von außen nicht so weit aussah, krabbelnd war das Ding gefühlt bestimmt zehn Meter lang. Und außerdem sehr frisurruinierend. Das Licht am Ende des Tunnels war merkwürdig metallisch und kam aus einer dunklen Hochkohte, die von innen mit Goldfolie ausgekleidet war. Darin saßen drei Leute und starrten hochkonzentriert auf ihre Handys oder Tablet-PCs. Bevor sich meine Augen ganz den Lichtverhältnissen angepasst hatten, sah einer der Drei kurz hoch und „begrüßte“ mich mit: „Hier, kannst mein altes iPad haben. Kannst ja mal gucken, was bei Facebook läuft oder willst du auch zocken?“. Sprach’s, warf mir ein (Papp)-iPad zu und versenkte sich wieder in sein Spiel. Ich setzte mich in die Runde und das Mädchen neben mir sagte über die Schulter zu mir: „Ich hab hier ein Foto das ist voll lol, schick´ ich dir und dann guck‘ mal was Gänschen10 gepostet hat, voll daneben, oder?“ Über die Tipp- und Spielgeräusche hinweg gab ich kurz meine Meinung ab, während Halbsätze wie „Check‘ mal deine Box, hab‘ dir gemailt“, „Cool, bin schon im dritten Level“ und „Schick‘ mir ma‘ den Link!“ durch die Gegend flogen. Die Facebook-Nutzerin neben mir quiekte plötzlich: „Oh, ist das süß, das muss ich ausdrucken!“, bat mich aus dem Nachbarraum Papiernachschub für den Drucker zu holen und zeigte auf die hintere Kohtentür.
Wieder an der frischen Luft, stand ich erneut vor einem Jurtenplanengang, in dem kreuz und quer Tampen gespannt waren. Mit Bücken, Strecken, Halbdrehungen auf einem Bein und anderen Verrenkungen hangelte ich mich durch dieses Hindernis bis ich den nächsten Eingang erreicht hatte. Diese Hochkohte sah vertraut aus: gemütliches Lagerfeuer, Felle drum herum, Tee köchelte… Sobald ich eingetreten war, wurde ich fröhlich empfangen und aufgefordert, mich dazuzuhocken. Bald stand ein Becher Tee vor mir. „Wir schwelgen gerade in Erinnerungen an unsere letzte Fahrt“, wurde ich auf den neuesten Stand gebracht. „Was hat dir denn am besten gefallen? Erzähl‘ doch mal.“ Ich ließ unsere geniale Nachttour mit der am Anfang doch etwas unheimlichen Elchbegegnung aufleben. Immer mehr Einzelheiten fielen mir ein. Schön war‘s. Alle stimmten mir nickend zu, bis jemand auf die Uhr sah: „Oh Mann, wir müssen los, wir sehen uns in einer Woche beim nächsten Heimabend. Mach’s gut bis dahin.“ und „Tschüüß“. Ein kurzer Abschiedsgruß und ab durch den Ausgang. Vor mir lagen ein Gang, eine Kartoffel, ein Löffel und ein Slalomparcours. Was da zu tun war, war klar. Trainiert durch viele noch nicht so lang zurückliegende Kindergeburtstage, bereite mir diese Aufgabe überhaupt kein Problem.
Am Ende aber kam ein neues „Bild“: keine Hochkohte, sondern eine Jurte. In der Mitte ein Feuer, um das schon einige Leute saßen und diskutierten. Ich wurde eingeladen, mich dazuzusetzten und mir hier den Raum und die Zeit zu nehmen, mich über das Erlebte auszutauschen. Als Gedankenanstoß warf die Moderatorin ab und zu die eine oder andere Frage in die Gesprächsrunde, wie zum Beispiel: Waren alle „meine Welten“ bei dieser „Wanderung“ dabei? Auf welche Welt könnte ich verzichten, auf welche gar nicht? Habe ich für alle Welten soviel Zeit, wie ich möchte? Mit Hinweis auf die Hindernisse auf den Wegen zwischen den Welten kam es unter anderen auch zu folgenden Überlegungen: Ist der Übergang zwischen den Welten im realen Leben für mich leicht oder schwer? Möchte ich die Welten trennen, oder dürfen sie ineinander übergehen? Bin ich in allen Welten die gleiche Person oder spiele ich unterschiedliche Rollen?
Viele der Wandernden, die alle zwei Minuten mit neuen Kartoffeln in die Jurte kamen, setzten sich eine Weile ans Feuer. Oft tat sich mit einer Antwort schon wieder eine neue Frage auf. Und meistens kamen wir zu dem Ergebnis, dass es nicht die eine Antwort gibt. Die Atmosphäre war offen und vertrauensvoll, so dass viele bereit waren, von eigenen Erlebnissen in ihren Welten und insbesondere von den Übergängen zu erzählen. Es waren für mich z. T. hochinteressante Ideen und Ansätze dabei, die mir die Möglichkeit eröffneten, Aspekte meines Lebens mal aus einer neuen Perspektive zu sehen. Ich denke, hier wurde bei mir etwas angestoßen, an das ich ab und zu im Alltag wieder zurückdenken werde.
Nach bzw. neben dieser Unterhaltung, gab es noch die Möglichkeit, das Erlebte zu reflektieren, indem man kurze Statements zu verschiedenen Fragestellungen mit einem Edding auf LKW-Planen schrieb, die in der Jurte verteilt hingen. Das war spannend und manchmal gar nicht einfach, eine kurze, knappe und doch treffende Antwort auf die Fragen zu finden. Neben den Planen fand ich dann noch eine Auswahl von Postkarten mit „Gedankenanstoß-Fragen“. Ich sammelte die für mich wichtigsten Fragen ein und trat mit den Karten in der Hand aus der Jurte wieder auf den Hauptweg des Meißnerlagers. Welche Welten erwarten mich wohl hier?
PS: Die Karte mit der Frage „Hast Du genug Zeit für alle Welten“ hängt nun über meinem Schreibtisch und wenn ich mit einem Blick auf sie laut „nein“ seufze, wird es dringend Zeit, mal wieder auf ein Lager oder auf Fahrt zu gehen…