Der Festakt war verklungen, das Feuer brannte noch am gegenüberliegenden Hang, als wir uns in die Jurte zurück zogen um unser Abendessen zu bereiten. Gegrilltes, großartig, könnte der Auftakt sein zu einem gewaltigen Freitagabend. Stattdessen schaute ich in müde Gesichter. Wir hatten die letzten Tage mit einem grandiosen Tippel durch das frühherbstliche Nordhessen zum Lager verbracht, viele nette Menschen getroffen, Unterhaltungen geführt und mit verschiedenen Leuten aus den unterschiedlichsten Bünden Kontakt gehabt. Das Lagerleben und die Singerunde von gestern steckten uns noch in den Knochen, sodass sich eine gewisse zufriedene Trägheit breitmachte. Ein wenig so, als ob man jetzt den Tatort schauen könnte um das Wochenende abzurunden und früh schlafen zu gehen. Aus der Ferne drangen die Chansonweisen der Heckenkapelle zu uns hinüber und ein paar Neugierige fanden sich dann nach den Steaks, um dem Konzert zu lauschen. Wunderschöne Musik, die aber in mir eher den Wunsch wachsen ließ weiter Musik zu hören, als selbst in die Gitarre zu greifen.
Auch das grandioseste Konzert findet leider irgendwann sein Ende und nach einer weiteren Zugabe verließen wir das Zelt wieder. Die Gesänge, die über den weiten Lagerplatz schallten, klangen schon zunehmend nach Feierei, aber in unserem Kreise war weiterhin der Zwiespalt zwischen Trägheit, Müdigkeit und dem Wissen, dass es eine einmalige Sache ist, mit so vielen Gleichgesinnten musizieren zu können, vorherrschend. So schlenderten wir unabhängig voneinander ein wenig über das Gelände, die Stimmung genießend, die die vielen verschiedenen Lieder und der Abendhimmel über den Hang legten. Nachdem ich das Sinnieren über die letzten Tage des gemeinsamen Meißnerjubiläums eine Zeit vorangetrieben hatte, wollte ich doch mal die Kameraden suchen. Aus dem Musischen Zentrum erklangen die Weisen der Bündischen Jugend am kräftigsten und so erhoffte ich mir dort meine Freunde zu treffen. In der Tat war die Jurte voll gepackt mit Musizierenden und auch meine Kameraden hatten ein Plätzchen gefunden. Jedoch war ihnen, so wir mir, ein gewisses Pflichtbewusstsein anzumerken. Nicht die innere Freude ließ uns am Gesang teilnehmen, eigentlich waren wir ziemlich müde. Eine kurze Weile überlegten wir, ob wir der inneren Faulheit Raum geben sollen, entschieden uns dann aber doch für das Gegenteil und bahnten uns den Weg in die Mitte der feiernden Masse. Wir waren uns der Einmaligkeit des Abends doch insofern bewusst, als dass viele verschiedene Bünde, mit vielen verschiedenen Instrumenten, Liedern und Strömungen doch das Potential für großartige geteilte Freude bürgen.
Wir kämpften uns zu dem Inneren des Musischen Zentrums vor und was uns da erwartete, war ein musikalisches Erdbeben. Unter dem großen Kerzenkronleuchter, der majestätisch vom Dach der Jurte den Raum erleuchtete, hatten sich Geigen, Kontrabässe und Schifferklaviere ihren Platz gesucht. Umrahmt von unzähligen schmetternden Gitarren, die feierlich ihre Hälse in die Luft reckten wie Fackeln und dabei rhythmisch die Wogen der Lieder begleiteten, die aus unzähligen Kehlen erschallten. Untermalt und gestützt wurde die ganze Szenerie noch von der Trommel, die dem Gesang und der Musik die Tiefe verlieh. Innerhalb von kürzester Zeit war die Müdigkeit in die letzte hintere Ecke des Bewusstseins verbannt worden. Das hier war eine Singerunde, wie sie selten zu finden ist. Die Feierlichkeit der Zeremonie noch in Gedanken, die Verschiedenartigkeit der anwesenden Bünde, die geballte Energie von unzähligen Instrumenten und Stimmen, verbanden sich mit den unterschiedlichen Traditionen von Sangesgut zu einem Orkan, der hin und her und her und hin durch die Jurte fegte. Die Stimmung war dabei geprägt von einem gemeinschaftlichen Miteinander, das doch bei Veranstaltungen mit vielen Menschen, wenig Platz und dem ein oder anderen Gerstengetränk selten anzutreffen ist. In wilder Hatz ging es Leinen los übers weite Meer, hin nach Nischni Novgorod, zurück nach Zaragoza, zu Kürbis und Melonen auf den Balkan. Ein wilder Ritt durch die gesamte Bandbreite der bündischen Liedkultur. Das eine Nacht nicht alleine zum Schlafen da ist, wurde uns in aller seiner Deutlichkeit vor Augen geführt. Gemeinsam wurden die Lieder, dem Anlass angemessen, variiert, sodass sich eine Mischung aus eigentlich falschen Schritten doch zu einem Kunstwerk der musikalischen Improvisationskunst verband. Ob das wunderbare musische Mosaik, dass von allen Seiten des Raumes heraufbeschworen wurde, auch von außerhalb als solches zu erkennen war, lässt sich nur vermuten, Tatsache jedoch ist, dass die Saiten glühten, ob von der Fiedel, dem Kontrabass oder den Klampfen. Die Ideen für neue Lieder schienen nie zu verebben und es war erfrischend viel Neues, Unbekanntes dabei, bei dessen Klang man sich kurz genießend zurück lehnen konnte, um bei Bekanntem wieder mit voller Kraft stimmliches Wasser auf die Mühle des Abends zu gießen.
Noch voller Musik im Ohr fielen wir später in die Schlafsäcke und es war dieses Gefühl des ungläubigen Kopfschüttelns, das mich in den Schlaf begleitete. War das wirklich alles gerade so passiert?