Ein wichtiger Bestandteil jugendbewegter Kultur ist bis heute das Lied. Eine Fülle lyrischer Texte wird hier im Gesang zur gelebten sozialen Praxis: ihre Wirkung entfalten diese Lieder in erster Linie im Unbewussten des Einzelnen, der an der singenden Gemeinschaft teilhat. Etwas anders verhält es sich mit dem „reinen“ Gedicht, das in der frühen Jugendbewegung einen viel höheren Stellenwert hatte als heute. Christophe Fricker, Autor des Buches „Stefan George: Gedichte für Dich“, hat uns im Jurtengespräch auf sehr bereichernde Weise daran erinnert, was denn ein Gedicht im Zwischenmenschlichen vermag. Er hat uns (für welche die Freundschaft ein zentrales Element der Jugendbewegung ist) einen Weg aufgezeigt sich im Gedicht zu begegnen und dadurch zu wachsen. Er schreibt:

In seiner knackig-kurzen, klugen Geschichte der deutschen Literatur schreibt Nicholas Boyle, die deutsche Klassik habe festgelegt, dass „Literatur“ in erster Linie „Kunst“ sei – und nicht irgend etwas anderes, zum Beispiel eine Form der Kommunikation. Deshalb gelten die „prophetischen“ deutschen Dichter (Hölderlin, George, Celan) wohl immer noch als die größten, während die politischen (trotz Heine, Brecht und Enzensberger) stärker unter Rechtfertigungsdruck stehen.

Literatur kann aber auch etwas anderes sein als emphatische Alltagsverneinung und engagierte Abstraktion. Boyle nennt das „Kommunikation“. Man könnte auch einfach sagen: Gespräch (und zwar in einem einfacheren Sinne, als Hölderlin und Gadamer das meinten). Wir können einem Freund durch ein Gedicht etwas sagen.

Wir können einen anderen Menschen dadurch, dass wir mit ihm Gedichte lesen, sogar zum Freund gewinnen. Dazu gehört allerdings sehr viel Mut.

Und zwar gerade weil wir mit einem Gedicht zwar etwas sagen können, aber nichts Genaues und Eindeutiges mitteilen. Gedichte sind offen. Wir können unserem Gegenüber etwas vorlesen oder auswendig hersagen. Aber dann müssen wir damit leben, dass er vielleicht etwas anderes versteht, als wir sagen wollten. Und hier beginnt die Freundschaft: Jemand ist angesprochen, er lässt sich ansprechen, er fragt vielleicht nach, er versucht die Situation zu verstehen, sich auf sein Gegenüber einzulassen, in einer Art und Weise, wie das Gedicht sie angelegt hat. Und dann geht er darüber hinaus und auf den Menschen zu. Vielleicht indem er selbst ein Gedicht als Antwort liest oder hersagt.

Am Feuer in der Jurte des Forum Mitte habe ich davon berichtet, wie einige meiner Freunde so zueinander gekommen sind. Gefreut hat mich, dass einer der Anwesenden mir noch in der Jurte zur Antwort ein Gedicht hergesagt hat, das ich gut kenne und das meine Freunde immer wieder gelesen haben. Es ist von Wolfgang Frommel: 

Die Fackel

Ich gab dir die fackel im sprunge
Wir hielten sie beide im lauf:
Beflügelt von unserem schwunge
Nimm nun sie der künftige auf.

Drum lass mich und bleib ihm zur seite
Bis fest er die lodernde fasst
Im kurzen doch treuen geleite
Ergreif er die kostbare last! 

Du reichst ihm was ich dir gegeben –
Und sagst ihm was ich dir gesagt:
So zünde sich leben an leben
Denn mehr ist uns allen versagt.