Die freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.

Die Formel unserer Urgroßväter bewegt uns noch heute. In vielen Bünden ist ihr Kern fester Bestandteil des Bundeslebens, viele Jugendbewegte hat sie geprägt und nicht wenigen ist sie ein Wegweiser für ihr Handeln. Keine der nachfolgenden Meißnererklärungen der großen Jubiläums-Lager kam je in ihrer Wirkungsgeschichte an die ursprüngliche Formel heran und doch verspürte noch jede Meißner-Mannschaft den Drang, eine eigene Meißnererklärung zu verfassen. Das mag gerade an ihrem Formelcharakter liegen.

Denn eine Formel ist eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Die Meißnerformel von 1913 hat vier Variablen: Die Lebensgestaltung = nach eigener Bestimmung + vor eigener Verantwortung + in innerer Wahrhaftigkeit. Anders ausgedrückt: Das eigene Handeln ergebe sich aus der Bestimmung der drei übrigen Variablen. Doch die Wünsche, die hinter einer Selbstbestimmtheit stehen, können nicht unbeeindruckt von den Möglichkeiten sein, die aus der realen Umwelt entspringen. Ebenso wird das menschliche Verantwortungsbewusstsein geprägt von der Auseinandersetzung mit moralischen und rechtlichen Vorstellungen des eigenen sozialen Umfelds. Selbst eine innere Wahrhaftigkeit kann sich nicht losgelöst von sozialen Einflüssen und Erlebnissen herausbilden. Kurz, die Lebensgestaltung nach der Meißnerformel steht in einer – wenn auch jeweils individuellen – Beziehung zum Umfeld und unterliegt somit sozial-historischen Einflüssen.

Wer den historischen Kontext der Meißnerformel von 1913 sowie der Meißnererklärungen von 1963 und 1988 betrachtet, der kann nicht nur deren Einflüsse erkennen. Auch der Drang wird verständlich, in einer veränderten Zeit eine neue, zeitbezogene Erklärung zur Meißnerformel zu abzugeben. 

Die Meißnerformel von 1913

Meißnertreffen 1913
Die politischen und sozialen Voraussetzungen von 1913 waren andere als heute. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sich damals das wilhelminische Kaiserreich hin zu einer Industrienation. Die Industrialisierung trieb die Landbevölkerung in die wachsenden Städte. Die Machtverteilung begann, sich zu verlagern: vom Adel hin zu bürgerlichen Handelsherren, Unternehmern und später sogar organisierter Arbeiterschaft. Die mit der Industrialisierung einhergehende Bevölkerungsexplosion1 führte nicht nur zu einem sehr jungen Bevölkerungsdurchschnitt sondern lenkte auch die Aufmerksamkeit auf einen Lebensabschnitt, der zuvor im sozialen Leben kaum vorgekommen war: Die Jugend.

Ohne diesen Grundstein wäre der Meißner 1913 kaum vorstellbar. „Bestärkt durch die geradezu kultische Verehrung von „Jugend“ in der damaligen Zeit, war den jugendlichen Mitgliedern und den erwachsenen Förderern der Bünde eines gewiss: In ihren Händen lag die Zukunft des Landes“2. Als sich dann noch die großen Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig und zum 25. Jahrestag des Amtsantritts Kaiser Wilhelms II. ankündigten, erscheint es geradezu folgerichtig, dass im jungen Wandervogel Ideen zu einem ganz anders gearteten Fest aufkeimen. Knud Ahlborn, einer der prägenden Personen des Meißner 1913, sagte dazu: „Man rüstete sich im offiziellen Deutschland zur Jahrhundertfeier der Leipziger Völkerschlacht 1813. Mit Aufmärschen braver deutscher Bürgervereine, Turner- und Sängerschaften und trinkfrohen Kommersen sollte dieses Fest in aufrichtiger Rückwärtsbegeisterung begangen werden. Man kannte diese patriotischen Selbstbeweihräucherungen, diese peinlichen Aufblähungen satter Bürgerlichkeit, deren höchstes Ergötzen immer wieder der Suff, Tabakqualm, das Kartenspiel und das Gegröle abgegriffener, unsinniger Lieder war. Dem galt es, aus den Erlebnis- und Gestaltungskräften der neuen Jugend heraus, das neu aufkommende Deutschland mit seinem in die Zukunft gewandten Antlitz, seiner Einsatz-, Schaffens- und Opferbereitschaft wuchtig entgegenzustellen … So entstand der erste Plan zu einer gemeinsamen Tagung der neuen Jugend am 11. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner.“3

Die Meißnerformel selbst ist Ausdruck jener Grundhaltung der ersten Meißnerfahrer. Im Wilhelminismus war selbstbestimmtes Leben ohne äußere Zwänge ein verständlicher Wunsch. Doch darüber hinaus wollten sie sich selbst und ihren Werten wahrhaft treu sein und die Verantwortung für ihr eigenes Handeln tragen. Auch wenn manchmal darauf hingewiesen wird, dass die Meißnerformel zunächst nur die Haltung der Meißnerfahrer von 1913 ausdrücken sollte, so ist sie doch zu einem Kompass geworden, zu dem sich bis heute weitere Generationen von Meißnerfahrern bekennen und den sie für ihr eigenes Leben in ihrer jeweiligen Bündelandschaft auslegen und anwenden.

Das Wiedersehen – der Meißner 1963

Ein halbes Jahrhundert später war die Welt grundlegend verändert. In Deutschland hatten sich drei politische Systeme in rasanter Folge abgelöst. Wilhelminisches Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus waren Geschichte. Die Welt hatte zwei Weltkriege überlebt und befand sich mitten im Kalten Krieg, dessen Frontgrenze Deutschland in die westlich-demokratische Bundesrepublik und die sozialistische DDR teilte. Auch wenn der wirtschaftliche Aufschwung der jungen Meißner-Generation von 1963 eine positive Grundstimmung gegeben haben mag, die Auswirkungen der historischen Vorgänge auf die deutsche Jugendbewegung waren verheerend. Der 1. Weltkrieg hatte große Lücken in die gesamte Führungsgeneration der Jugendbewegung gerissen und nur wenige Jahre später waren die Bünde während der Gleichschaltung im Nationalsozialismus gezwungen, sich in die HJ einzugliedern, sich aufzulösen – oder in die Illegalität zu wandern. Der 2. Weltkrieg forderte weitere, zahlreiche Opfer unter der Führungsgeneration der wenigen, heimlich Übriggebliebenen.

So kommt es, dass 1963 zwei völlig unterschiedliche Meißner-Generationen aufeinander treffen. Während die Verbliebenen aus der Zeit von 1913 und vom 2. Freideutschen Jugendtag 1923 wenig von der neu aufgestandenen Jugendbewegung wissen, treffen die Jüngeren nicht nur zum ersten mal in so großer Zahl aufeinander, sondern auch auf ihre „Vorgänger“ aus den Zeiten vor und zwischen den Kriegen. Gemeinsam erleben sie, auf welche Tradition sie zurückblicken und wie lebendig sie weiterhin ist. Die Öffentlichkeit nahm wohl mit gemischten Gefühlen von diesem Meißnertreffen Kenntnis. „Jugend in Uniform“ weckte keine guten Erinnerungen.

Krieg, Diktatur, Unfreiheit und Verbotszeit, die eigene Anfälligkeit für die Verführung der Jugend im Nationalsozialismus und die Sorge vor der neuerlichen ideologischen Schulung in Zeiten des Kalten Krieges waren aufwühlende Themen, die insbesondere Helmut Gollwitzer in seiner heute noch bewegenden und lesenswerten Meißnerrede aufgriff. Doch Gollwitzer sprach nicht rückwärtsgewandt-betrachtend, sondern positionsbeziehend für die Gegenwart und in seinem Schlusswort mit einem Apell in die Zukunft: „Dies ist sicher: Wenn jemand im Jahre 2013 noch das Bedürfnis empfinden sollte, hier oben des Aufbruchs deutscher Jugend vor 100 Jahren zu gedenken, dann werden Kapitalismus und Kommunismus wenig mehr dem gleichen, was sich heute so nennt, – und dann wird ein solches Gedenken nur möglich sein, wenn die europäische Jugend sich nicht aufs neue hat den Torheiten der älteren Generation zum Opfer bringen lassen.“4

Es gehört zu den Verdiensten des 63er Meißner, dass dieses diskursive Thema im offiziellen Bereich den Reden überlassen wurde. Dem vagen Misstrauen der Öffentlichkeit, dem mulmigen Gefühl gegenüber der neuen „Jugend in Uniform“ und dem freudigen Erkennen, wie viele Bünde ähnlich jugendbewegt lebten, begegneten die teilnehmenden Bünde mit ihrer „Grundsatzerklärung der Jungen Bünde zum Meißnertag 1963“. Es mag daran gelegen haben, dass diese Standortbestimmung vor allem von Teilnehmern der jüngeren Generation verfasst worden ist. Tatsache ist, dass sie vor allem eine von der Meißnerformel getragene Beschreibung der Arbeitsweise der Bünde und innerhalb dessen ein klares Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat ist.

Eine Zeit der Verunsicherung – der Meißner 1988

Auch wenn die politischen Umwälzungen 25 Jahre später scheinbar gering ausfallen, ist doch die Stimmung in der deutschen Bevölkerung wieder eine andere. Im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses von 1979 waren nukleare Mittelstreckenwaffen 1983 in Deutschland stationiert worden, um einen Gegenpol zur Sowjet-Überlegenheit zu schaffen. Ein nicht auszuschließender nuklearer Erstschlag hätte deutschen Boden betroffen. Zwar wurde Ende 1987 ein Abkommen über die Beseitigung aller landgestützten Mittelstreckenwaffen in Europa unterzeichnet und Gorbatschow hellte die Stimmung mit seinen Reformplänen auf. Doch die DDR stand kurz vor dem Zusammenbruch. Niemand konnte absehen, ob die UdSSR nicht wieder mit Panzern eingreifen würde, um ein weiteres Auseinanderbrechen des Ostblocks zu verhindern. Die Angst vor einem möglicherweise katastrophalen Ausgang der Entwicklungen war groß. Die später folgende, friedliche Wiedervereinigung Deutschlands schien 1988 noch weit entfernt.

In dieser Zeit der Verunsicherung ereignet sich 1986 in Tschernobyl der bis dahin schwerste Kernreaktorunfall. Es kommt zu Hamsterkäufen von vor der Katastrophe unverseucht produzierten, langhaltenden Lebensmitteln (Konserven, H-Milch). Zahlreiche Pfingstlager der Bünde werden abgesagt. Tschernobyl wird zum angstverbreitenden Symbol für die Unbeherrschbarkeit menschlicher Eingriffe in die Natur. Die Euphorie des deutschen Wirtschaftswunders mit seiner Fortschrittsgläubigkeit ist einer tiefen Verunsicherung gewichen.

In dieser Stimmung wurde auch die 88er Meißnererklärung verfasst. Sie beginnt – beinahe folgerichtig – mit den Worten: „Mit Betroffenheit verfolgen wir den Weg, auf dem die heutige Zivilisation voranschreitet“. Die Erklärung sieht die „Existenz der Erde und ihrer Geschöpfe“ gefährdet und hat dieser Angst nicht mehr entgegenzusetzen als die beinahe hilflos anmutende „Suche nach einem neuen würdigen Weg der menschlichen Kultur“, der sich die Meißnerbünde von ‚88 im Sinne der Meißnerformel verschreiben wollen.

Der Meißner 2013 – die Erklärung zum 100-jährigen Jubiläum

Emblem Meissner 2013

Der Weg zur Meißnererklärung 2013 war ein lang erarbeiteter Prozess. Am Beginn standen im Frühjahr 2011 eine Wandzeitung5 zu den hier angerissenen gesellschaftspolitischen Hintergründen sowie ein kleiner Arbeitskreis auf dem Meißner-Vorbereitungswochenende auf Burg Ludwigstein. Daraus gingen sowohl das Zentrum zur Meißnerformel hervor als auch der Arbeitskreis zur Meißnererklärung 2013, der ein Jahr später auf Schloß Martinfeld konstituiert wurde. Der Arbeitskreis erstellte einen Entwurf, an dem später auf mehreren Vorbereitungstreffen gefeilt wurde. Dabei flossen Ergebnisse aus Diskussionen in den Meißnerforen und in bündischen Runden mit ein, um möglichst viele Bünde am Entstehen der gemeinsamen Erklärung zu beteiligen. Am Ende wurde die Erklärung einstimmig auf dem Vorbereitungstreffen in Immenhausen am 24.3.2013 beschlossen.

Den inhaltlichen Einstieg in das erste Treffen des zunächst kleinen Erklärungs-Kreises6, boten die historischen Betrachtungen und eine Standortbestimmung der Gesellschaft. Schnell wurde klar, dass nicht alle Entwicklungen für die Meißnererklärung relevant sind: So ist die Wiedervereinigung Deutschlands lange genug her, dass es sich für die meisten Meißnerfahrer schon selbstverständlich anfühlt, gemeinsam mit den gar nicht mehr so neuen Bundesländern auf den Meißner zu fahren. Der Anschlag auf das World Trade Center im September 2001, Al Qaida, die Islam-Debatte, Revolutionen in arabischen Ländern und der „bewaffnete Konflikt“ in Afghanistan – all das sind sicher „weltbewegende“ Geschehnisse. Den Kern der Jugendbewegung betreffen sie indes nicht.

Es sind andere Entwicklungen, die die Bünde tatsächlich herausfordern, wie der Wandel von der analogen zur digitalen Welt. Längst nutzen die meisten Bünde digitale Kommunikation zur Organisation ihrer selbst. Doch die Vorzüge der digitalen Erreichbarkeit und Vernetzung setzen auch unter Druck, ständig erreichbar sein zu müssen. Digitale Freundschaften sind schnell geschlossen und ebenso schnell wieder gelöscht. Ins Netz gestellte Informationen sind jederzeit und nahezu überall abrufbar und verbreiten sich unkontrollierbar schnell. Wer zu einer Veranstaltung zugesagt hat, kann zwei Minuten vorher absagen – und dennoch hoffen, den Organisator noch zu erreichen. Die digitale Welt ist eine schnelllebige, die zu Unverbindlichkeit und Beliebigkeit im Umgang miteinander verführen kann. Dem stellen sich die Meißnerbünde 2013 in ihrer Erklärung entgegen und nutzen die Meißnerformel als Kompass durch diese Welt und als Kompass für ihre eigene, innere Haltung.

Doch nicht jede Herausforderung stammt aus der digitalen Welt: So treffen die Veränderungen im Bildungswesen7die Bünde an empfindlicher Stelle. Denn sie greift in die Lebensstruktur der jungen Führungsgenerationen ein. Selbstbewusst stellt die Meißnererklärung 2013 den vom humanitären Bildungsbegriff geprägten Beitrag der Bünde zur Bildung dar. Auch das Thema Umweltschutz hat seine Wichtigkeit nicht verloren, ist doch die Fahrt als zentrales Element bündischen Lebens ohne die Begegnung mit der Natur nicht denkbar.

Ein weiteres Thema wirkt erschütternd in der Öffentlichkeit: Die nach und nach bekannt werdenden Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und in zu vielen pädagogischen Einrichtungen. Es ist das wohl mutigste Thema, das diese Generation der Meißnerbünde angeht. Die Erkenntnis, dass die Bünde mit ihren Strukturen von Freundschaft und Vertrauen, gemeinsamen Unternehmungen und Nähe auch Versteckmöglichkeiten für Täter sexuellen Missbrauchs und sexualisierter Gewalt bieten, führt zu Aufklärungs- und Präventionsarbeit, sogar zu einem eigenen Zentrum (Tabubruch), das über das Meißnerlager hinaus Bestand hat. In der Meißnererklärung bekennen sich die Bünde deshalb zum Respekt vor dem Nächsten und lehnen jede Grenzüberschreitung ab, die Würde und Persönlichkeit eines anderen verletzt. Diese innere Haltung ist mit sexuellem Missbrauch nicht vereinbar.

So stellen sich die Bünde in ihrer Meißnererklärung von 2013 den Herausforderungen ihrer Zeit auf der gemeinsamen Grundlage der Meißnerformel, zu der sie sich konsequent bekennen. Wieder ist die Erklärung zu einer Standortbestimmung der Bünde, diesmal im Jahr 2013 geworden.

  • 1. Zwischen 1896 und 1913 wuchs die Bevölkerung um 36%. Vergl. Winfried Mogge: Der „Hohe Meißner“ – Symbol und Sehnsucht. In: Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißner-Treffens 1988 e. V. (Hr.), Michael Fritz (Red.): Festschrift zum Meißner 1988. Südmarkverlag: Heidenheim, 1988. S 6.
  • 2. Ebd.
  • 3. zitiert nach: ebd. S 7.
  • 4. Helmut Gollwitzer: Rede auf dem Hohen Meißner 1963. In: Festschrift zum Meißner 1988. S 73.
  • 5. verfaßt von Almut Karig.
  • 6. Am 17.-19.8.2012 trafen sich Almut Karig (VCP), Claus Freyer (PB Phoenix), Gunter Karig (PB Kreuzfahrer) und Karolin (Karo) Dörrheide (PSD) und legten den Grundstein für die Meißnererklärung 2013.
  • 7. vor allem das gymnasiale G8 und die Bologna-Reform an den Universitäten.