Wenn wir uns selbst nicht klar werden, was Jugendbewegung eigentlich ist und was sie will, dann werden andere von außen eine Fremddeutung vornehmen. Dabei kommen mitunter Sachen heraus wie „Rassenwahn am Lagerfeuer“, „Mischung aus Musikantenstadl und Flüchtlingslager“ oder „Ringelpiez im Kaufunger Wald“ – wollen wir das?
Viele schlaue Leute haben aus verschiedenen Blickwinkeln etwas über die Jugendbewegung gesagt. Für uns führten vor allem drei Gedanken zu unserem Meißner-Projekt:
Um sich in unserer unübersichtlichen Welt zurechtzufinden und sie gestalten zu können sind „reife Persönlichkeiten“ gefragt.
Die notwendigen Freiräume für die Entwicklung von persönlicher Identität werden enger.
Die Erfindung der Jugendbewegung ist die Erfindung eines Erfahrungsraumes, in dem die Menschen sich zu sich selbst hin entwickeln können. Diese Entwicklung von persönlicher Identität wird hier wie in einem Katalysator beschleunigt und forciert.
Was aber genau die Jugendbewegung mit den Menschen macht, ist bis heute nicht ganz klar. Um zu beurteilen, was denn Jugendbewegung heute leisten kann und was vielleicht auch nicht, ist es aber wichtig, Jugendbewegung besser zu verstehen.
Die interaktive Jurteninstallation
Wir im Phoenix haben daher eine Art Grundlagenforschung betrieben: Anstatt weiter von außen auf die Jugendbewegung zu schauen, sind von der phänomenologischen Seite herangegangen: was ist uns denn aus unserem Erleben heraus das Wichtigste an der Jugendbewegung? Dazu haben wir zunächst versucht, die prägenden Elemente des jugendbewegten Erfahrungsraums zu benennen. In einem mehrstufigen Verfahren sind etwa 70 Begriffe herausgekommen, die wesentlich zu sein scheinen.
Wichtig dabei ist, dass diese Elemente für sich genommen weder neu noch besonders sind: Gesungen wird auch in anderen Zusammenhängen, gewandert auch. Die besondere Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung scheinen die einzelnen Elemente in ihrem engen Zusammenspiel und ihrer besonderen Ausprägung zu entfalten.
Auf dem Meißner wollten wir diesen Erfahrungsraum begreifbar machen und näher erforschen. Wir installierten 70 Begriffe in einer hochgestellten Jurte zwischen den zentralen Punkten Gruppe, Natur, Fahrt und Innenwelt. So entstand ein begehbarer Kunstraum, in dem die Elemente in einem räumlichen Bezug erfahrbar wurden. Das Ganze wirkte fast sakral und lud zum Meditieren ein, was denn das Wichtigste an unserem jugendbewegten Erlebnisraum sei.
Die Begeher waren eingeladen die Begriffe zu bewerten. Dazu bekam jeder ein Glasröhrchen gefüllt mit etwa 30 Linsen (ein Linsenzentimeter, lcm), die er frei auf die an den Begriffen angebrachten Röhrchen verteilen konnte. Über 200 Meißnerfahrer haben auf diese Weise die Wertigkeit der Begriffe bestimmt. Die Teilnehmer haben auf diese Weise eine Selbstdeutung vorgenommen, die sich durchaus auf eine programmatische Aussage zuspitzen lässt. Wir müssen dazu die Ergebnisse aber erst einmal lesen.
Vor der Betrachtung der Ergebnisse muss einschränkend gesagt werden, dass wir nicht genau wissen, wie viele Teilnehmer tatsächlich im Jugendalter waren und in wie weit es zu einer Verzerrung durch das Abstimmungsverhalten gekommen sein könnte (wurden beispielsweise komplette lcm auf einen Begriff gegeben?). Dazu kommt, dass die Hierarchie der Begriffe unterschiedlich ist (Abstrakta wie Freiheit neben Konkreta wie Kohte) und dass einige Begriffe nicht oder unterschiedlich mit Bedeutung belegt werden konnten (Selbstwirksamkeit oder Schönheit).
Ergebnisse
Die zwölf herausragenden Elemente der Jugendbewegung 2013 sind auf jeden Fall über jede statistische Verzerrung erhaben. Wir können also annehmen, dass wir es hier mit den Elementen des jugendbewegten Erfahrungsraumes zu tun haben, denen der größte Wert beigemessen wird.
Das, was uns ausmacht, entsteht nicht nur in dem Zusammenspiel dieser einzelnen Elemente. Entscheidend ist auch, auf welche besondere Weise sie in unserem jugendbewegten Erfahrungsraum gelebt und begriffen werden: was ist beispielsweise das Besondere an unserem Singen im Unterschied zu dem in einem Schulchor?
Im Folgenden soll eine Erklärung dieser Begriffe in ihrer Bedeutung und in ihrem Zusammenhang gegeben werden.1 Das rührt letztlich an die Frage, was uns denn bei aller Unterschiedlichkeit in unserem Handeln und dessen Zielsetzung verbindet.
Gruppe
Freundschaft ist mit 12 lcm der zentrale Begriff der Jugendbewegung. Zusammen mit der Gemeinschaft (8 lcm) und dem Vertrauen (6,25 lcm) scheint die Jugendbewegung zunächst ein soziales Phänomen zu sein. Diese Ergebnisse bestätigen die Beobachtung, dass für die jugendbewegte Gruppe ein starkes emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl charakteristisch ist. Auch in biografischen Selbstzeugnissen2 wird den Freundschaften überragende Bedeutung zugeschrieben, die nicht selten lebenslang anhalten. Der Grund für diese Art der Beziehungen wird dadurch gelegt, dass die Teilnahme an der jugendbewegten Gruppe ein freiwilliger und selbstbestimmter Akt ist. Von daher unterscheiden sich die Beziehungen innerhalb jugendbewegter Gruppen grundsätzlich von den determinierten Beziehungsmerkmalen nicht frei wählbarer familiärer oder institutioneller Bindungen.
Im Setting der Gruppe kann sich eine Sphäre des Vertrauens, (und der Wertschätzung und Verantwortung) etablieren. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er grundsätzlich in seinem So-Sein akzeptiert und anerkannt wird. Er darf authentisch sein, was eine Grundlage für die Entfaltung von Identität ist.
Ein weiteres Element der jugendbewegten Gruppe ist ein besonderes und intensives Erleben von Gemeinschaft. Es entsteht bisweilen ein Gefühl großer sozialer Gleichheit, Solidarität und Zugehörigkeit. Diese Art von Gemeinschaftlichkeit ähnelt der von dem Ethnologen Victor Turner beschriebenen „Communitas“, die er bei stammesgesellschaftlichen Übergangsritualen entdeckt hat. Hier kann sich eine „unvermittelte Beziehung“ von Mensch zu Mensch ereignen. Das intensive Gemeinschaftserleben hat eine starke Gruppenbindung und -identifikation zur Folge.
Natur
Alle Prozesse der Identitätsentwicklung im jugendbewegten Erfahrungsraum bekommen durch die Einbettung in die besondere soziale Atmosphäre einen verstärkenden Spin. Das Thema des gemeinschaftlichen jugendbewegten Erlebens war immer die Naturbegegnung. Sie ist 2013 durch den Begriff Wildnis (9,5 lcm) stark repräsentiert.
Nicht die brave und kultivierte Landschaft, sondern ihr spannungsreiches und ursprüngliches Synonym ist wichtig. Wildnis ist frei von den Zwängen, Zwecken und Normen der Gesellschaft. In diesen Freiraum hinein kann sich die experimentelle Gegenkultur der Gruppe entfalten.
Aber auch der Einzelne bekommt in der Wildnis Entwicklungsimpulse: einerseits hält sie Herausforderungen bereit, die bewältigt werden wollen, sie bietet gleichzeitig auch die Erfahrung von Kontinuität, Sicherheit und des Eingebunden-Seins in natürliche Prozesse. Bezeichnend ist, dass bei den von Viktor Turner untersuchten afrikanischen Stämmen die jugendlichen Initianten aus der Gesellschaft heraustreten und über Wochen in die Wildnis, in einen außergesellschaftlichen Raum, eintreten. Sie machen das, damit sie sich verwandeln können um später als reife und vollwertige Individuen ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Fahrt
Aus dem Bereich der Fahrt wird dem Gesang (8 lcm) hohe Bedeutung beigemessen. Noch vor dem unmittelbaren Abenteuer (6,5 lcm) steht also die Reflexion des Erlebten im Lied. Gesucht wird auf Fahrt „das Leben, das wahre Erleben“, also nicht eine didaktisch aufbereitete und abgesicherte Wirklichkeit. Es geht um die Konfrontation mit der Realität in Form des Abenteuers (aventiure), dem, was ungeplant auf einen zukommt.
Es werden ganz bewusst Grenzsituationen aufgesucht oder durch asketische Exerzitien initiiert, in denen der Einzelne seine eigenen Grenzen erfährt und diese erweitern kann. Diese intensiven „echten“ Erfahrungen sind Herausforderungen, die bewältigt werden wollen. Der Einzelne kann sich dabei bewähren, wodurch er die Erfahrung von Selbstwirksamkeit macht. Dieses Bewusstsein für das eigene Können ist ein entscheidender Faktor für die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des Einzelnen.
Wichtiger als die direkte Erfahrung scheint jedoch die Verarbeitung des Erlebten im Gesang zu sein: Durch den Gesang werden jugendkulturelle Freiräume ausgestaltet. Er steht (auch in seiner Vielfalt) für die kulturproduktive Kraft der Jugendbewegung. Mehr noch: Die gemeinsamen Erlebnisse erfahren durch die Versprachlichung im Lied Bedeutung und Ausdeutung. Das Fahrtenerlebnis wird gemeinschaftlich gleichsam in einem Akt magischer Evokation wiederhergestellt und mit Bedeutung versehen.
Dabei hat die Sprache weniger eine objektive Mitteilungsfunktion. Vielmehr entsteht im Gesang eine erfahrbare Präsenz und Wirkung (Kiefern im Wind, die Klippen sind wach, jäh sprüht der See ins Schilfhüttendach). Die individuellen Erfahrungen und Erlebnisse des Einzelnen werden in der Teilhabe am Gesang sozial und kulturell kontextualisiert und können auf diese Weise als sinnhaft interpretiert werden.
Innenwelt
Besonders spannend ist, dass fast die Hälfte der Top-Elemente des jugendbewegten Erfahrungsraumes Begriffe der Innenwelt sind: zunächst kommen Freude (7,75 lcm) und Verzicht (7 lcm). Die Grundstimmung oder Atmosphäre, in der jugendbewegtes Leben stattfindet, ist also ein wichtiger Wert. Interessant ist, dass anscheinend eine freiwillige Selbstbeschränkung (Verzicht) als Voraussetzung für die Qualität des inneren Erlebens gesehen wird. Ähnlich verhält es sich mit den beiden etwas weiter unten rangierenden Begriffen Selbstdisziplin (6 lcm) und Einfachheit (6 lcm), die auf dem selben Wert wie Freiheit (6 lcm) rangieren.
Welche Werthaltung spiegeln diese Begriffe? Es sind genau die Qualitäten, welche die Autoren der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ anmahnen. Angesichts eines wachsenden Hyperkonsums und dem damit einhergehenden Verschleiß von Natur- und Sozialkapital schlagen die Autoren einen Wandel der Mentalität vor:
Es gilt, neue Fähigkeiten zu lernen: Dinge abzuwählen, sie auszuwählen, Nein zu sagen: „Von nichts zuviel“ ist der antike Leitspruch von Delphi: es geht um die Entdeckung des immateriellen Wohlstands. Übermaß und Überdehnung zurücknehmen um abgedrängten Lebensqualitäten Geltung zu verschaffen. Sparsam im Haben - Großzügig im Sein lautet die Devise der Zukunftsfähigkeit für einen selbst wie für die Gesellschaft.
Wenn ich mich nicht irre, liegt in der von der Meißnerjugend abgesteckten inneren Werthaltung ein ernstzunehmendes „zukunftsfähiges“ gesellschaftlich-revolutionäres Potenzial.
Ein letzter Begriff bleibt noch: die Wahrhaftigkeit (6 lcm). Ein großer Begriff, er bezeichnet das sich-selbst-treu-bleiben, einen inneren Kompass zu haben für falsch und richtig. Wahrhaftigkeit ist die Basis für ein an Vernunft und Verantwortung orientiertes Handeln.
Dieser Begriff deutet auf eine entwickelte persönliche Identität hin: Das Ziel der Identitätsentwicklung ist im weitesten Sinne eine reife, handlungs- und gestaltungsfähige Persönlichkeit, die sich angesichts verschiedenster Anforderungen selbst treu bleibt. Diese Leute werden die Stützen der Gesellschaft sein.
Wenn man die Selbstdeutung der Meißnerfahrer auf wenige Worte zuspitzt, könnte Folgendes herauskommen:
Die Jugendbewegung besteht aus Gruppen, in denen sich intensive Freundschafts- und Gemeinschaftserfahrungen ereignen. Als Erlebnisgemeinschaften suchen sie auf Fahrt in die Natur die außergesellschaftliche Wildnis auf. In diesem Freiraum gestalten sie eigene kulturelle Räume (beispielsweise durch den Gesang). Wichtig ist, dass der Einzelne durch die dort an ihn gestellten Herausforderungen (Abenteuer) seine persönliche Identität entwickelt: Durch (Konsum- )verzicht, Reduktion und Selbstbeschränkung werden innere Qualitäten wie (Lebens-)freude und Freiheit erfahren. Dies führt zu einer Haltung innerer Wahrhaftigkeit.
Wenn dies tatsächlich der kleinste gemeinsame Nenner der Jugendbewegung 2013 ist, ist das eine ganze Menge: die in der Jugendbewegung gelebte innere Haltung kann für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft von großer Bedeutung sein. Hier liegt ihr Sinn und ihre Aufgabe. Im Moment jedoch scheint sich die Jugendbewegung in ihrem Eigenwert selbst zu genügen. Sie befindet sich im Dornröschenschlaf eines arkadischen Dämmerzustands. Ihre gesellschaftliche Wirkung läuft momentan indirekt und unbewusst über ihre „Absolventen“. Wahrscheinlich kann sie eine Außenwirkung erst dann entfalten, wenn in der großen Heterogenität dieser kleinen Bewegung ein gewisser Grad an Reflexion und Selbstbewusstsein über die wertvollen Gemeinsamkeiten und deren Relevanz und Wirksamkeit erlangt worden ist.
Die Dislikes der heutigen Jugendbewegung
An dieser Stelle könnte man schön einen Schlusspunkt setzen. Aufschlussreich ist aber auch ein kurzer Blick auf das untere Ende der Skala: welche Elemente des jugendbewegten Erfahrungsraums werden denn als nicht so wichtig erachtet oder sind sogar verpönt (unter 2 lcm)?
Hier zeichnen sich zwei Gruppen ab. Nicht so gemocht werden Werte und Normen, Gleichheit und Gleichklang, Dienst und der Führer. Diese Elemente bezeichnen die Einordnung des Einzelnen in gegebene Strukturen.
Der Einzelne unterliegt hier vermeintlich Einschränkungen, die im Unterschied zur gefeierten Selbstdisziplin oder dem gelobten Verzicht nicht frei gewählt sind, sondern von außen an ihn herangetragen werden. Vermutlich wird hier die Gefahr gesehen, dass die selbstbestimmte eigene Entfaltung eingeschränkt wird.
Ein anderes ungeliebtes Feld bilden Symbol, Mythos, Kluft, Ritual und Stil. Diese Elemente beziehen sich auf eine ästhetische Gestaltung und Überhöhung des gemeinsam Erlebten. Ähnlich wie bei der ersten Gruppe geht es hier um eine kollektive Deutungshoheit der Wirklichkeit, der sich der Einzelne zu unterwerfen hat. Die Interpretation von Welt wird auf diese Weise nicht mehr als selbstgesteuert, sondern als fremdbestimmt erlebt.
Für die Furcht vor Fremdbestimmung und Einordnung gäbe es eine Reihe von Deutungsansätzen (auch in den aktuellen Jugendstudien). Möglicherweise wird aber einfach der Wert und die Bedeutung dieser scheinbar unmodernen Elemente im jugendbewegten Erfahrungsraum nicht mehr recht verstanden.
Es ist bezeichnend, dass die misslungenen Ansätze einer Fremddeutung der Jugendbewegung vor allem an diesen unzeitgemäß und abseitig erscheinenden Elementen ansetzen. Vielleicht liegt auch genau in diesem „Mißverständnis“ ein Grund, warum die jugendbewegte Gruppe als Gesellschaftsform heute keine Breitenwirkung mehr entfalten kann. Daher ist es wichtig, dass wir uns besonders mit diesen Elementen des jugendbewegten Erfahrungsraums auseinandersetzen und ihre Bedeutung klären.
- 1. Ausführlicher in: Florian Conrad-Roesner: Die Identität der Blauen Blume. Eine entwicklungspsychologische Annäherung. In: Festschrift Meißner 2013. 100 Jahre Freideutscher Jugendtag auf dem Hohen meißner. Hgg. von Peter Stibane und Felix Prautzsch, 2013.
- 2. gesammelt beispielsweise von Barbara Stambolis