Nichts kann so in den Bann ziehen wie echte Freude. Zudem ist es ein wunderbarer Anblick.

Es ist eine bewegende, ja, mitreißende Stimmung die da den Burghof der Burg Ludwigstein erfüllt, als die letzten Worte von Hans Paasches aus Kanada angereistem Enkel verklungen sind und über 200 meist jugendliche Kehlen erneut ein Lied anstimmen. Zwischen all den Instrumenten, Wimpeln und Fahnen drängt sich im engen Hof, bis auf die Außentreppen hinauf, eine illustre Schar zusammen, die von der Reformjugend über mehrere Pfadfinderbünde bis hin zu Wandervögeln reicht.

Es ist ein beeindruckender Ausdruck von Freude und Tatendrang, von Gemeinschaft und Verbundenheit zueinander und zur Burg, der hier zwischen den schönen und liebgewonnenen Verzierungen und Fachwerkgiebeln, dem gewohnten Geschrei der rund um den Turm kreisenden Krähen und dem jugendlichen, frischen Gesang erlebbar wird. Mit einer unvermittelt auflebenden, deutlich spürbaren jugendbewegten Stimmung und ausstrahlenden Freude ergreifen die Bünde, Junge und Alte, Mädchen und Jungs gemeinsam Besitz von ihrer Burg, nicht ahnend, daß es für lange Zeit das letzte mal sein wird.

Nur wenige Wochen später, Anfang November, wird sich eine düstere Eiszeit über die Graue Burg legen und sich deren Tore gerade jener Jugend verschließen, die mit ihrem jugendbewegten Geist und jugendlicher Unbekümmertheit die lebendige Brücke zu ihrer ureigenen Geschichte (und Auftrag) ist. So müssen zukünftig gerade diejenigen draußen bleiben, die der Burg so eng verbunden sind und sogar, wie vor einem knappen Jahrhundert einst ihre Urahnen, bis in die letzten Monate hinein mithalfen neue Räume und Gemächer zu errichten. Wie fatal, nun gerade jene vor den Kopf zu stoßen, zu enttäuschen und auszugrenzen, die durch ihr Alter noch unverbrauchten Idealismus in sich tragen und zudem am meisten Halt und Verläßlichkeit bedürfen.

Doch noch ist von düsteren Wolken und Vorahnungen nichts zu spüren. Anfang Oktober erstrahlt die Ludwigstein noch im Hausmannschen herbstlichen Sonnenglast, ist noch Bezugspunkt, Erinnerungsort, vor allem aber liebgewonnener Treffpunkt einer lebendigen Jugend. „Carpe diem“, ja, man soll den Tag, den Augenblick nutzen! Wie unterstreichen doch die kommenden Ereignisse diesen Spruch.

Wir haben Glück mit dem Wetter. Es ist zwar recht kalt, in der Nacht hatte es Frost gegeben und so manche Kohte war am Saum vereist, jetzt aber scheint die Sonne von wolkenlosem Himmel. Was will man mehr?!

„In die Sonne, die Ferne hinaus…“ mit diesem so passenden Lied auf den Lippen setzt sich die bunte Schar, angeführt von vielen Gitarren in Bewegung und wandert zum Burgtor hinaus in den strahlenden Sonnenschein.  Und reißt dabei in ihrem Schwung und Ausstrahlung alles mit, was eigentlich nur Zuschauen wollte. So schließen sich Mitarbeiter der Burg ebenso spontan ein stückweit dem langen Zug an, wie Gottlieb Paasche und selbst Touristen, die nur zufällig dort sind.

Nichts kann so in den Bann ziehen wie echte Freude. Zudem ist es ein wunderbarer Anblick.

Der großen Wandergemeinschaft vorneweg eilen junge Heranwachsende, die die Strecke ausgekundschaftet haben. In Oberrieden gibt es einen ersten Halt und wieder wird musiziert, einfach so, nicht auf Ansage, sondern aus einer Laune heraus. Aus den Fenstern schauen einige Leute zu, und auch so manche Autofahrer halten an, winken, grüßen, fragen. Es ist ja kein alltägliches Bild, das sich da bietet.

Nun geht es weiter über geteerte Verbindungswege unter dem riesigen Eisenbahnviadukt hindurch bis zur Brücke von Lindewerra. Wieder eine Pause und wieder wird gesungen. So geht es mit dem einen oder anderen Halt weiter bis nach Allendorf.

Wer einmal kurz stehen bleibt und ein wenig nach der Seite heraustritt, dem bietet sich ein wunderbares, unvergessliches Bild. 230 fröhliche Leute, Mädels und Jungs, ziehen bunt durchmischt in einer großen Gruppe die Straße entlang. Überall sind Gitarren, vereinzelt Trommeln und im stürmischen Herbstwind flattern dutzende Fahnen und Wimpel.

Obwohl die Gruppe so groß ist zieht sich die Schar kaum auseinander. Es ist ein großer Pulk, der da durchs Werratal wandert. Dadurch, daß alle so dicht beieinander bleiben, ergeben sich ständig neue Möglichkeiten für Gespräche. Genau darin lag auch das Ziel. Gemeinsam etwas machen, gemeinsam unterwegs sein und dabei Zeit für einander haben, für Gespräche, für neue Kontakte, zum gegenseitigen Kennenlernen. Die ersten beiden Tage sollten nur uns selbst im Forum Mitte gehören, ohne Programm, ohne Ablenkung.

Wie schön, daß die Idee so gut aufgeht! Ebenso ist es faszinierend, wie gut alles zusammenpaßt, obwohl hier doch so ganz verschiedene Gruppen und Bünde und ganz unterschiedliche Persönlichkeiten zusammengefunden haben. Es sind sogar Gäste dabei, die noch nie etwas mit Pfadfindern oder Wandervögeln zu tun hatten, wie eine Jugendgruppe aus Polen, die zufällig auch auf der Burg Ludwigstein war und sich genauso angezogen fühlte und mitwanderte wie ein Autor und Wissenschaftler, der eigentlich auf der Burg Ludwigstein und später auf dem Meißnerlager Vorträge über Stefan George halten wollte. Sie alle sind nun dabei, ziehen gemeinsam die Straßen und Wege entlang.

Überall werden über Bundes- und Altersgrenzen hinweg Gespräche geführt, Ideen geschmiedet, Gemeinsamkeiten ausgelotet. Auch Christophe Fricker, der Georgefachmann aus England, ist ein unerhört interessanter Gesprächspartner der während der ganzen Wanderung interessierte Köpfe in seinen Bann zieht. Eine Ähnlichkeit mit den Erzählungen von 1913 ist nicht zu übersehen, wo während der Wanderung zum Meißner sogar die berühmte „Formel“ entwickelt wurde.

Gemeinsam etwas machen, gemeinsam unterwegs sein und dabei Zeit für einander haben, für Gespräche, für neue Kontakte, zum gegenseitigen Kennenlernen. Die ersten beiden Tage sollten nur uns selbst im Forum Mitte gehören, ohne Programm, ohne Ablenkung.

Was vielen auffällt ist ein Gleichklang oder, besser gesagt, eine gleiche „Wellenlänge“, die trotz  unterschiedlicher Bünde, Persönlichkeiten und der Verschiedenartigkeiten dennoch deutlich spürbar wird.

Nach einer kleinen Brotzeit auf dem Marktplatz von Allendorf, bei der rings um den Brunnen wieder alle im Kreis eigener Gruppen und Bünde zusammensitzen, werden erneut die Gitarren gestimmt und das Forum versammelt sich zu einem großen Halbkreis. Es sind inzwischen noch einige Nachzügler hinzugekommen, so daß der Kreis nun auf gut 230 Jungen und Mädel angewachsen ist. Eine Stunde lang erklingen vor der schönen Fachwerkkulisse und einigen interessierten Zuhörern nun bekannte Volks- und auch ein paar melodische Fahrtenlieder. Auch hierbei kommt wieder die schon seit dem Morgen vorherrschende Freude zum Ausdruck, die sich auch jetzt wieder auf Zuschauer und -hörer überträgt.

Hört, hört!

Das Musizieren in der Öffentlichkeit ist eine Form der Teilhabe, die andere mit einbezieht. Wer selbst reich an Besitz ist, der soll und will – im positiven Fall- auch andere daran teilhaben lassen. Genau das geschieht hier in Allendorf. Man kann es kaum schöner als in dieserart Rückkopplung, im Geben und Nehmen, wie bei einem solchen offenen Konzert erleben und spüren, was es bedeutet Teil einer größeren Gemeinschaft – der Gesellschaft – zu sein.

Die Prüfung der Fahrtenteilnehmer kommt dann am Nachmittag auf einem sehr steilen Pfad während des langen Anstiegs von der Werra bis hinauf auf den angrenzenden Höhenzug. Über eine lange Strecke kann man nur noch hintereinander laufen, aber auch hier gibt es eine Reihe helfende Hände, die wiederum über Bundesgrenzen hinweg dem einen oder anderen ganz Jüngeren einen Teil der Last abnehmen.

Der Lagerplatz bei Orferode den wir am Spätnachmittag erreichen ist wunderschön. Von dort kann man das Frankershäuser Lagergelände schon sehen. Unter großen Bäumen werden Feuerstellen eingerichtet und mit den Strahlen der untergehenden Sonne auf weiter Wiese die Kohten aufgestellt.

Das Abendsingen findet an einem großen zentralen Feuer statt, jedoch ohne Zelt, denn wir haben ja nur das dabei, was wir auch mittragen können. Da es so kalt ist , drängen alle recht dicht zusammen und es entwickelt sich darüber eine ähnlich dichte, schöne  und vor allem harmonische Singerunde, die in ihrer ganz eigenen Stimmung nocheinmal gut die gemeinsame „Wellenlänge“ und auch gemeinsames Wollen sichtbar macht.

Nach einer schönen und anspruchsvollen Morgenrunde, den bundesinternen Frühstücksrunden und dem Lagerabbau, steht die ganze Mannschaft um Punkt 11 Uhr bereit zum Loswandern. Auch diese, sich völlig von alleine ergebende Disziplin, die ohne laute Ansagen auskommt ist ein kleines Wunder und läßt so manchen staunen. Was ist dafür Ursache, was treibt uns an? Einige der Antworten dazu lassen sich nur zum Teil in Worte fassen, dafür umsomehr spüren. Auch nun wieder, auf dem letzten Stück des gemeinsamen Weges durch Orferode und Frankershausen bis zum Lagerplatz.