Mit einem Blick fängt es an. Mit einem Abend am Feuer, wenn man sich lange die Hände reibt, weil es draußen schon kalt ist. Und nachts wacht man auf und hat eine laut gesungene Zeile im Kopf, drei oder vier Wörter. Und nebenan schnarcht einer. Morgens auch erst wieder ein Lied, ein Blick über das Tal auf den nächsten Hügel, dann Frühstück. Das ist da. So fängt es an.

Manche sagen, es fängt ganz anders an. Es fing ganz anders an. Vor 100 Jahren, mit tausenden von Jugendlichen, die sich singend und tanzend im nordhessischen Hügelland einige Tage und Nächte um die Ohren schlugen, sich gegen Staat und Militär und Kaiser und Völkerschlacht wehrten, indem sie fragten, was das alles eigentlich mit ihnen zu tun hätte.

Zwischen dem ersten Treffen auf dem Hohen Meißner 1913 und dem ersten Blick ins Feuer, den ich 2013 tat, liegen Abgründe. Manche meinen, über die Abgründe hinweg spanne sich die Geschichte des Wandervogels, der Jugendbewegung, der Bünde, deren Organisationen alle Brüche irgendwie überstanden hätten. Das mag irgendwie so sein, aber jetzt frage ich: Was hätte das mit mir zu tun?

Ich bin nicht in einer dieser Organisationen aufgewachsen, aber eben auch nicht in einer Umwelt, in der ich bereit bin, mich als Menschen und mein gegenüber als Menschen zu übersehen. Mit dem Blick und dem Lied und dem gemeinsamen Gang beginnt der einzelne Mensch, beginnt die kleine Gemeinschaft, und ohne die kleine Gemeinschaft kann die große Gesellschaft nicht überleben.

Ich habe einige Jahre in der Gemeinschaft von Freunden verbracht, die den Zweiten Weltkrieg im Untergrund dadurch überlebt haben, dass sie zusammenhielten, Gedichte lasen und schrieben, übersetzten und interpretierten, und die es nach dem Krieg geschafft haben, ihre Begeisterung für einander, für die gemeinsame geistige Arbeit und für die Begeisterungsfähigkeit vieler ihrer Mitmenschen zur Grundlage eines Lebensentwurfs und einer Lebenspraxis zu machen. Die Freunde des Amsterdamer Castrum Peregrini scharten sich um die Gedichte von Stefan George, mit dem ich mich inzwischen auch als Leser und Wissenschaftler seit anderthalb Jahrzehnten beschäftige. Mich fasziniert, dass er in der modernen Welt, in dieser ruchlosen und unnachgiebigen Ich-Welt, der vorausschauende, oft heitere Du-Dichter ist.

2013 war ich auf den Hohen Meißner eingeladen, um über diesen Dichter zu sprechen. Im kleinen Kreis auf der Burg Ludwigstein habe ich erzählt, was mich bewegt, und in den folgenden Tagen habe ich zu meiner glücklichen Verblüffung festgestellt, mit wie vielem ich offene Türen einrannte. In all den Jahren war es mir noch nie passiert, dass ich ein Gespräch über George beginnen wollte, vom Veranstalter aber gleich unterbrochen wurde, weil die versammelten Teilnehmer erst einmal ein Lied singen wollten, das sich dann als Vertonung eines George-Gedichts herausstellte. Es ist mir noch nie passiert, dass mich außerhalb des Amsterdamer Kreises jemand fragte, ob ich Wolfgang Frommels Gedicht über die Fackel kenne. Es ist mir noch nie vorgekommen, dass ich morgens in einem Kreis von 200 jungen Menschen stehe, aus dem einer hervortritt und eines der mutigsten und schwierigsten Gedichte Georges rezitiert, unter blauem, klarem Himmel und frischer Sonne.

Vorher war von Abgründen die Rede. Das 20. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert der Abgründe, es ist auch das Jahrhundert der Bürokratien, und diese beiden Dinge hängen sehr eng miteinander zusammen. Wenn wir versuchen, uns aus den Abgründen zu retten und uns gegen Bürokratien zu stemmen, sind wir froh, auf glückliche Gleichgesinnte zu treffen. Denn Abgründe können wir nicht nur dadurch vermeiden, dass wir uns an sie erinnern, sondern auch indem wir die Hoffnung auf ein Gelingen nicht aufgeben.

Ich habe die Tage mit dem Wandervogel im Oktober 2013 in unausgesetzt freudigem Staunen verbracht. Ich hätte nicht erwartet, der Augen wahre Glut, wie George das formuliert, tatsächlich funkeln zu sehen. Ich hätte nicht erwartet, junge Menschen zu treffen, die die Aufforderung „Geloben wir glücklich zu sein“ tatsächlich beherzigen, ohne diese Worte Georges überhaupt zu kennen. Ich habe es genossen, fünf Tage ohne Technologie und Zynismus zu leben, die uns im Alltag so viele Möglichkeiten zur Entfaltung rauben.

Die Frage, wie an solche glücklichen Erfahrungen anzuknüpfen ist, gehört zu den schwierigsten, die George in seiner Dichtung stellt. Ich kann sie nicht beantworten, aber ich kann jenes Gedicht zitieren, in der er sie uns in ihrer Dringlichkeit vor Augen führt:

KAIROS

Der tag war da: so stand der stern.
Weit tat das tor sich dir dem herrn …
Der heut nicht kam bleib immer fern!
Er war nur herr durch diesen stern.